·

Spurensuche einer Australierin führt nach Bad Lippspringe und Paderborn: Tagebuch der Mutter als Wegweiser

Krysia Tincello trägt sich ins Goldene Buch der Stadt Bad Lippspringe ein, neben ihr Ehemann Kevin mit einem Balinchen. Ebenfalls anwesend: Bürgermeister Ulrich Lange (links), Jürgen Reuter und Janine Kemper, die als Dolmetscherin fungierte.

Bad Lippspringe/Paderborn. Es war eine Reise in die Vergangenheit. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Kevin hat sich die Australierin Krysia Tincello auf eine besondere Spurensuche begeben, die sie am Ende auch nach Bad Lippspringe und Paderborn führen sollte.

Wichtiger Wegweiser war das Tagebuch ihrer vor zwei Jahren verstorbenen Mutter Helena. Sie beschreibt darin ausführlich ihre Zeit als Zwangsarbeiterin in Nazi-Deutschland und die Monate und Jahre nach der Befreiung.

Helena Korneluk wuchs in einer Kleinstadt im Osten Polens auf. Die Kindheit, so beschreibt sie es in ihrem Tagebuch, ist ihr in schöner Erinnerung geblieben. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veränderte alles. Wie viele andere Mädchen ihres Alters wurde die damals erst 15-Jährige als Zwangsarbeiterin nach Deutschland transportiert – zu einem Bauernhof im thüringischen Sollstedt, einer 2000 Seelengemeinde.

Ursprünglich sollte die zwei Jahre ältere Schwester die Fahrt nach Deutschland antreten. Doch die Mutter meinte nur: „Es ist besser, Helena geht. Die ist klug und wird die körperlichen Strapazen besser verkraften.“

Und tatsächlich war die Arbeit in der Landwirtschaft hart. Kraft schöpfte das junge Mädchen nach eigener Aussage allein aus der Hoffnung, einmal die polnische Heimat und ihre Familie wiederzusehen.

Mit der Befreiung 1945 durch die Alliierten ließ die junge Frau das Kapitel Sollstedt hinter sich. Sie schloss sich einem Tross von Menschen an, die wie sie heimatlos waren. Ihr Wunsch, nach Polen zurückzukehren, hatte sich zerschlagen. „Meine Mutter wollte nach Ende der Hitler-Diktatur nicht auch noch unter der Herrschaft Stalins leben“, erinnert sich die Tochter.

Schicksalhafte Fügung

Von Thüringen aus ging es Richtung Westen ins ostwestfälische Paderborn, wo die Briten damals eines ihrer Hauptquartiere aufgeschlagen hatten. Was folgte, war eine schicksalhafte Fügung, die Helena Korneluks weiteres Leben maßgeblich verändern sollte.

Zu jener Zeit suchte auch das Internationale Rote Kreuz händeringend Krankenschwestern, die unmittelbar nach Kriegsende die vielen jungen Waisenkinder betreuen sollten. Ein solches Kinderheim befand sich damals unter anderem auch in Bad Lippspringe. Zwar verfügte die damals 20-jährige Helena Korneluk nicht über die dazu notwendigen Qualifikationen – sie wurde dennoch als Helferin und Betreuerin eingestellt.

Suche nach ehemaligem Waisenhaus

Die Suche nach dem ehemaligen Waisenhaus in Bad Lippspringe – immerhin viele Jahrzehnte später – gestaltete sich von Anfang an schwierig. In dieser Situation kam den beiden Australiern der Bad Lippspringer Jürgen Reuter zur Hilfe.

Der Kontakt hatte sich bereits 2017 eher zufällig ergeben, als die Stadt nach einem kompetenten Ansprechpartner für die beiden wissbegierigen Australier suchte. „Seitdem stehen wir in engerem Kontakt“, so Reuter, der Gründer und ehemalige Leiter des Rotkreuz-Museums in Schlangen.

Er durchstöberte unzählige lokalgeschichtlich relevante Bücher und besuchte verschiedene Archive in der Region. Und bald glaubte er auch, auf der richtigen Spur zu sein: „Ich war mir zunächst sicher, das kann nur die Cecilienklinik sein, die zu jener Zeit als Kinderheim genutzt wurde.“

Die Beschreibung im Tagebuch von Helena Korneluk ließen ihn aber bald schon zweifeln: „Heute bin ich mehr denn je überzeugt, dass die Kinder im ehemaligen Haus Ottilie in Nähe des ehemaligen Marienkrankenhauses untergebracht waren.“ Ein letzter Beweis fehlt. Beide historischen Gebäude wurden schon vor Jahrzehnten abgerissen und mussten einem Neubaugebiet weichen.

Tanzabende im Restaurant Fischerhütte

In Bad Lippspringe habe ihre Mutter nach all den Schrecken des Krieges wieder angefangen, Tagebuch zu schreiben, so Krysia Tincello rückblickend. Von freundlichen Menschen und schönen Begegnungen ist darin an mehreren Stellen zu lesen. In Bad Lippspringe habe sie viele gute Freunde gefunden. Unvergessen sind ihr auch die Tanzabende im Restaurant Fischerhütte.

1948 verließ Helena Korneluk Deutschland und wagt in Australien einen Neuanfang. In Melbourne hat sie auch die Ausbildung zur Krankenschwester erfolgreich nachgeholt. Der sechsfachen Mutter ist ein langes Leben beschieden: 2021 stirbt sie im Alter von 96 Jahren.

Das in polnischer Sprache geführte Tagebuch ist ihr Vermächtnis – nicht nur für die Familie. „Vielleicht werden wir es noch ins Englische übersetzen lassen, um einen größeren Leserkreis zu erreichen“, überlegt die Tochter.

In engem Austausch stehen die Besucher aus Australien auch mit dem Stadtarchiv in Paderborn. „Dort gibt es großes Interesse an dem Tagebuch der Mutter und den raren Fotos aus dieser Zeit. Einige Dokumente hat Krysia Tincello dem Archiv bereits übergeben“, sagt Jürgen Reuter, der die Eheleute während des einwöchigen Besuchsprogramms begleitet hat.

Zum Abschluss der Reise gab es noch einen kleinen Empfang durch Bürgermeister Ulrich Lange. Anschließend trug sich Krysia Tincello in das Goldene Buch der Stadt Bad Lippspringe ein.

Quelle: Westfalen-Blatt, OWL, Bad Lippspringe